Sehnsucht

Lang hatte sie davon geträumt, es mit jeder Faser ihres Körpers herbeigewünscht: dass sie Patrick - ihr Wohnungsnachbar - endlich beachten möge, dass sein Herz auch nur für kurze Zeit schneller schlagen würde, wenn er ihr begegnete.

Eines Morgens hatte sie ihre Wohnung verlassen, - ihre Gedanken urlaubten wie so oft in einer Parallelwelt -, da waren sie am Gang zusammengestoßen, beide waren hingefallen, sie auf ihm zu liegen gekommen. Zuerst hatte sie nicht gewusst, wie ihr geschah, dann hatte sie ihn erkannt, war sich der Situation bewusst geworden und noch mehr erschrocken.

Der Duft seines Körpers, seine wehrlose Nähe hatten sie maßlos verwirrt, sodass sie sich einfach ihren intensiven Wahrnehmungen und Gefühlen hingegeben hatte. Sie hatte schließlich noch mitbekommen, dass er ihr beim Aufstehen geholfen und fortgegangen war. Aber ob er sie in diesen wenigen Momenten wahrgenommen, sie vielleicht angelächelt hatte, ob er gar Interesse an ihr erkennen lassen hatte, hatte sie später nicht mehr zu sagen gewusst.

In den kommenden Wochen erfüllte sie die gewaltige Kraft der Sehnsucht. Es war ein verzehrendes Gefühl, sie spürte, dass es in ihr lebte, brannte und schmerzte. Die Sehnsucht ließ sich kaum verbergen, leuchtete aus ihren Augen, verlieh ihren Bewegungen Schwung und ihren Gedanken Tiefe, ließ sie nicht schlafen, nicht fern sehen und nicht lesen, aber wenigstens wusste sie, dass das, was sie wach hielt, wertvoll war, ein Geschenk von noch nie gekannter Größe.

Ihre Pläne wirbelten durcheinander, sie buchte die lang ersehnte Urlaubsreise nicht und vernachlässigte ihre Bekannten. Ihre beste Freundin verstand sie, die meisten andern aber vergaßen sie. Überhaupt war sie in dieser Zeit für ihre Mitmenschen schwer zu ertragen. Sie fühlte sich oft unverstanden und wurde ebenso behandelt. Manchmal fokussierte ihre Aufmerksamkeit im Nirgendwo, dann wieder trug sie ihr Herz auf der Zunge, ihre Haut wurde dünner, und sie fiel - scheinbar grundlos - wildfremden Menschen weinend um den Hals.

Aber sie lebte in bisher nicht gekannter Intensität, atmete tiefer, ihre weichen Gesichtszüge strahlten Kraft und kindliche Freude aus. Sie zählte die Stunden, redete mit dem Mond und führte ihre Seele spazieren. Und irgendwann merkte sie schließlich, dass sich das ursprüngliche Ziel ihrer Sehnsucht mehr und mehr aus ihrem Herzen entfernte. Zurück blieb wohlschwingende Gelassenheit, in der sie langsam einen Weg zu ihrem Selbst fand.

Sie beschloss, umzuziehen.

Als ihr Patrick dabei half, die Möbel aus der Wohnung zu tragen, war er einfach ein guter Nachbar, und nicht mehr, und nur ein flüchtiges Aufblitzen in ihren Augen verriet, dass er eine kurze, intensive Zeit lang ihr Herz berührt hatte.

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